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Brockhaus
Name a Agrarfrage
ID b brhe•e15•v21•b•A•Agrarfrage
Category d entry
Attributes
PageID q p01000—p01100
Scan v Agrarfrage
Text w

Der Große Brockhaus, 15. Aufl., Ergänzungsband A—Z (1935), S. 10—11.

Agrarfrage, die Gesamtheit der Fragen, die sich mit den sozialwirtschaftlichen Verhältnissen in der Landwirtschaft und ihrer Besserung beschäftigen. Es handelt sich dabei vor allem um die Verteilung des Grundeigentums und der Betriebsgrößen (Verhältnis des Großgrundeigentums zu den bäuerlichen Betrieben), um die Rechtsstellung der landwirtschaftlichen Bevölkerung (Landarbeiterfrage) sowie allgemein um die Sicherung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit der Landwirtschaft. (→ Landwirtschaftliche Besitzverfassung, Bd. 11, → Landwirtschaftliche Unternehmungsformen, Bd. 11, → Landwirtschaftspolitik, Bd. 11, → Innere Kolonisation, Bd. 9, → Siedlung, Bd. 17, → Reichsnährstand, Bd. 21.)
Die Verschlechterung der landw. Lebensbedingungen in Mitteleuropa seit Beginn des 19. Jahrh. hat ihren Ausgangspunkt in der → Bauernbefreiung (Bd. 2), die dem Bauern zwar ein freies Bodeneigentum gab, ihn im übrigen aber gänzlich auf sich selbst stellte. Bes. verschärft wurde die Lage durch den überseeischen Getreidewettbewerb. Die Agrarkrisis der zwanziger Jahre des 19.Jahrhunderts war eine ausgesprochene Überproduktionskrisis, hervorgerufen durch die Ausdehnung der Anbauflächen und techn. Verbesserungen bei vermindertem Absatz. Die in den sechziger Jahren ausgebrochene landw. Kreditkrisis ging zurück auf den durch die wachsende Industrialisierung entstandenen Mangel an Kapitalien für Meliorationszwecke. Dagegen war die seit den siebziger Jahren in Erscheinung tretende Preiskrisis insofern anders geartet, als sie internationalen Charakter trug, ein Dauerzustand wurde und zu einer die Belange der Landwirte wahrenden »agrarischen Bewegung« führte. Die Krisis zeigte sich in sinkenden Getreidepreisen, wachsender Verschuldung der Landwirte und immer zahlreicher werden den Zwangsverkäufen von Gütern. Bis dahin hatten die deutschen Landwirte bei wachsendem Inlandsbedarf und steigenden Preisen nicht nur das Monopol der nationalen Lebensmittelversorgung innegehabt, sondern hatten, vor allem in Ostdeutschland, nach Aufhebung der englischen Kornzölle Getreide ausgeführt und waren daher durchaus freihändlerisch eingestellt gewesen. Wenn man auch bei schlechten Ernten gezwungen gewesen war, sich auf benachbarten Märkten mit den benötigten Mengen einzudecken, so fehlte doch der dauernde Zuschußbedarf. Erst als mit Hilfe des europäischen Kapitals in den überseeischen Gebieten Kanäle und Eisenbahnen gebaut waren, ein regelmäßiger Frachtdampferverkehr von Amerika nach Europa eröffnet und das für die Verbreitung der Markt- und Börsenberichte so wichtige Überseekabel gelegt war, konnten regelmäßig Getreideverladungen von den Ver.St.v.A. nach den europ. Häfen erfolgen. Nordamerika hatte selbst noch in den vierziger Jahren Mehlzufuhr aus Europa benötigt, war dann aber im Sezessionskriege (1861—65) zur Getreideausfuhr übergegangen, um die Kriegsausgaben zu decken. In Europa traf die durch die billigen amerik. Getreideverschiffungen hervorgerufene Agrarkrisis England am unmittelbarsten, da es den ersten Anprall der überseeischen Lieferungen auszuhalten hatte. Drei Möglichkeiten gab es gegenüber dem überseeischen Getreidewettbewerb: Die Einfuhr konnte verboten, vollkommen freigestellt oder durch Schutzzölle erschwert oder verhindert werden. Im Sinne seiner liberalen polit. Überzeugung ließ Großbritannien das fremdländ. Getreide unbehindert herein. Die Folge war, daß in England die Weizenpreise von 248 ℳ je t im Durchschnitt der Jahre 1861—70 auf 128,2 ℳ im Durchschnitt der Jahre 1891—95 sanken. Bei dem vorherrschenden Pachtsystem zeigte sich der Verlust vor allem darin, daß die Pachtzinsen zu einem erheblichen Teil nicht mehr gezahlt wurden. Für die Pächter bedeutete dies eine wesentliche Erleichterung der Krisenwirkung, indem so ein Teil der Wirkung auf die Grundherren abgewälzt wurde. Das feuchte engl. Klima und das starke Anwachsen der Städte ermöglichte ferner vielfach den Übergang zu gewinnbringenderen Kulturen durch Ausnutzung der guten Weidegelegenheiten.
Im Deutschen Reich zeigten sich die Wirkungen erst Ende der siebziger Jahre. Bis 1878 traten die deutschen Landwirte im Zeichen starker Getreideausfuhr aus den Ostseehäfen für den Freihandel ein. Als Bismarck 1878 aus fiskalischen Gründen einen Schutzzoll einführte, der in seiner geringen Höhe (1 ℳ je Doppelzentner) nur geringe Wirkungen auf Preis und Einfuhr von Weizen ausüben konnte, stimmte ein Teil der Agrarier im Reichstag gegen die Einführung von Zöllen. In den achtziger Jahren hatte sich dann aber, nachdem inzwischen zu der nordamerik. und russ., die ind., kanad., rumän. und austral. Konkurrenz getreten war (seit Beginn der neunziger Jahre kam noch die argentin. hinzu), die Lage der deutschen Landwirte derart verschlechtert, daß Bismarck 1885 und 1887 die Zölle erhöhen mußte. Als nun aber Caprivi, um den Exportkapitalismus zu stärken und »Waren statt Menschen« auszuführen, die Getreidezölle wieder senkte, schlossen sich 1893 unter dem Frh v. Wangenheim die »Agrarier«, wie sie von ihren industriell-städt. Gegnern genannt wurden, zum »Bund der Landwirte« zusammen und suchten durch starke polit. sowie wissensch. Propaganda der Vernachlässigung landw. Interessen in der Gesetzgebung und in der Wirtschaftspolitik entgegenzutreten. In der Handelstarifnovelle v. Dez. 1902 gelang es ihnen, vom 1. März 1906 ab eine Wiedererhöhung der Getreidezölle durchzusetzen. Am schwersten litten die vornehmlich aus Getreide- und Kartoffelbau angewiesenen Großgrundbesitzer im Osten, während die überwiegend Viehzucht treibenden mittel- und südwestdeutschen Bauern, in deren Wirtschaft die Arbeit hauptsächlich von den Familienmitgliedern geleistet wird, der Krisis stärkeren Widerstand entgegenstellen konnten. Dennoch wurde über die Zunahme der landw. Verschuldung geklagt und von manchen als die eigentliche Wurzel aller agrarischen Übel die Anwendung des liberalen Eigentums- und Erbrechts auf die Bodenverhältnisse bezeichnet. So kam es, daß seit den achtziger Jahren eine Agrarreform im Sinne einer Beschränkung der Verschuldungsmöglichkeiten und des Besitzwechsels, einer Festigung des bäuerlichen Anerbenrechts und einer Aufteilung des Großgrundbesitzes zugunsten der Vermehrung von Bauernstellen angestrebt wurde.
In der Zeit nach dem Weltkriege setzte in den meisten Ländern mit bedeutendem Großgrundbesitz eine Bewegung zur Umgestaltung der bestehenden Agrarverfassung ein, die teils zur völligen Beseitigung des priv. Großgrundeigentums, teils zu einer organischen Umgestaltung der Besitz- und Betriebsverhältnisse führte. Im Deutschen Reich war bis zum Ende der Inflation (Nov. 1923) die Lage dadurch gekennzeichnet, daß einem mangelnden Angebot eine starke Nachfrage gegenüberstand, da die Währungslage die Einfuhr größerer Mengen ausländ. Getreides nicht erlaubte. Erst mit der Stabilisierung der Währung und der Erneuerung der Handelsverträge i. J. 1924 spitzte sich die A. wieder zu. Es fehlte das nötige Betriebskapital, und die Kredite waren zu teuer. Da zudem die Preise für Agrarerzeugnisse niedrig im Verhältnis zu denen der Industrieerzeugnisse waren (→ Preisschere, Bd. 15), erwies es sich als notwendig, nicht nur »Bereitschaftszölle« (1925) einzuführen, sondern darüber hinaus eine ganze Reihe von Maßnahmen zugunsten der notleidenden Landwirtschaft zu treffen, unter denen die Erleichterung der Kreditbedingungen voranstand. Da aber trotzdem die Verschuldung der Güter dauernd zunahm, sah sich die Regierung zu neuen Eingriffen gezwungen: die Zölle wurden erhöht, Umschuldungen vorgenommen, eine besondere → Osthilfe (Bd. 13) eingerichtet.
Der Nationalsozialismus betrachtet die A. als Lebensfrage des deutschen Volkes, die Erhaltung des Bauernstandes als Kern der Wirtschaftspolitik. Sowohl die Siedlungspolitik wie auch das → Reichserbhofrecht (Bd. 21) und die Einführung von Festpreisen für die Landwirtschaft auf Grund der Marktordnung des → Reichsnährstandes (Bd. 21) sollen dem Ziel dienen, nicht nur dem Bauern wirtschaftlich zu helfen und die Nahrungsmittelversorgung im Inland zu sichern, sondern dem Landvolk als Blutquell der Nation diejenige Stellung wiederzugeben, die ihm aus polit. und sozialen Gründen zusteht.
References x
W. Dietze: Art. Agrarkrisen im Wörterb. der Volkswirtschaft, Bd. 1 (4. Aufl. 1931); Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik, hg v. der Friedrich-List-Gesellschaft, 3 Bde. (1932); Burgdörfer: Zurück zum Agrarstaat? (1933); Darré: Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse (2. Aufl. 1933); Sering: Deutsche Agrarpolitik auf geschichtl. und landeskundl. Grundlage (1934).

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